Warum gibt es so viele schlecht verträgliche Kaninchen?

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Viele Halter fragen sich irgendwann, warum einzelne Kaninchen nicht gruppentauglich sind (sondern nur als Paar zu halten), wieso es immer wieder zu Beißereien kommt und warum die Gruppe nicht einfach harmonisiert?

Leider wissen gerade Gruppenhalter, dass einige Kaninchen nicht gruppentauglich sind und nur als Pärchen gehalten werden können. Sobald ein gleichgeschlechtliches Kaninchen auftaucht, werden sie sehr aggressiv. Und das, obwohl Kaninchen doch eigentlich in der Natur in Gruppen leben und hoch sozial sind.

Lieber hören statt lesen?

Beispiele für aggressives Verhalten beim Kaninchen:

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Wie kann das sein?

Dafür gibt es eine recht einfache Erklärung. Kaninchen haben unter den Männchen und unter den Weibchen eine strenge Rangordnung, zwischen den Geschlechtern ist die Rangordnung locker oder gar nicht vorhanden. Deshalb sind Vergesellschaftungen mit dem Gegengeschlecht deutlich einfacher. Sobald eine Gruppe entsteht, müssen die Kaninchen gut sozialisiert sein um eine Rangordnung richtig auszufechten ohne sich schwer zu verletzen.

Und das sind leider fast gar keine Kaninchen.

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Unsere Kaninchen wachsen fast ausnahmslos allein mit der Mutter auf (und nicht in der Gruppe). Es fehlt die Gruppengemeinschaft von adulten Rammlern und Häsinnen, denn diese älteren Tiere würden die Jungtiere erziehen und sozialisieren. Das findet nicht statt. Zudem werden die Jungtiere fast immer viel zu früh von der Mutter getrennt. Eigentlich sollten sie frühestens mit 10, besser mit 12 Wochen ausziehen, in der Regel ziehen sie doch mit 5-8 Wochen aus und haben so nicht einmal die Chance, Sozialverhalten von der Mutter zu erlernen.

Soziales Verhalten ist nicht vollständig angeboren, sondern wird erworben

„Auch wenn Tiere derselben Art angehören, existieren große Unterschiede darin, wie sie sich gegenüber Herausforderungen aus der Umwelt verhalten. Hierfür sind neben Alter, Geschlecht und genetischer Pradisposition vor allem Erfahrungen wahrend der Entwicklung verantwortlich. Untersuchungen an Rhesusaffen machten in den 50er Jahren erstmals deutlich, welchen Einfluss die Sozialisationsbedingungen auf das spätere Verhalten der Tiere haben können: Im Gegensatz zu Affen, die im Sozialverband aufwuchsen, verhalten sich einzeln groß gewordene Tiere in neuen Situationen furchtsam und depressiv, gegenüber fremden Artgenossen jedoch hyperaggressiv. Sie können keine,,normalen“ innerartlichen Sozialbeziehungen mehr aufbauen.
Diese Befunde beschränken sich jedoch nicht nur auf Primaten. Wahrscheinlich bedürfen alle Säugetiere adäquater Sozialisationsbedingungen, um mit Artgenossen erfolgreich kommunizieren und interagieren zu können.“
Ach, J. S., & Stephany, M. (2010): Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Münster: LIT Verlag.

Das Vergesellschaftungsverhalten wird in der Sozialisierungsphase erlernt

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„Soziale Erfahrungen während der Ontogenese haben aber nicht nur Auswirkungen auf das Verhalten der erwachsenen Tiere, sondern auch auf ihre physiologischen Stressreaktionen, wie wir in unseren Untersuchungen an Hausmeerschweinchen nachweisen konnten. Wachsen Männchen dieser Tierart in gemischt geschlechtlichen Kolonien auf, so integrieren sie sich als Erwachsene ohne Probleme in fremde Kolonien. Während des ersten Tages dort erkunden sie die unbekannte Umwelt, führen aber keinerlei offensiv aggressives Verhalten gegenüber den ansässigen Männchen oder Werbeverhalten gegenüber den Weibchen aus. Innerhalb der nächsten Tage gliedern sie sich dann in das soziale Beziehungsgefüge der neuen Gruppe ein, ohne dass auffälliges Droh- und Kampfverhalten auftritt. Wie Abbildung 3 zeigt, kommt es bei den in Kolonien aufgewachsenen Männchen in der für sie neuen Situation zu keinen Veränderungen in den Konzentrationen der Stresshormone.
Tiere, die einzeln oder paarweise, das heißt zusammen mit einem Weibchen, aufgewachsen sind, verhalten sich in derselben Situation jedoch vollkommen anders: Sobald sie auf ein fremdes Weibchen treffen, zeigen sie intensives Werbeverhalten. Wenn sie auf ein fremdes Männchen treffen, greifen sie dieses an. Sie werden jedoch von den ansässigen Männchen im Laufe des ersten Tages besiegt und ziehen sich in eine Ecke der Kolonie zurück. Obwohl sie anschließend nicht mehr in Interaktionen verwickelt sind, treten starke physiologische Stressreaktionen auf. Bereits fünf Stunden nach dem Umsetzen in eine fremde Kolonie kommt es zu einer Erhöhung der Cortisolkonzentrationen um knapp 200 Prozent und bis zum dritten Tag der Versuche zu einer Körpergewichtsreduktion von etwa zehn Prozent. Erst zwanzig Tage nach dem Einsetzen in den fremden Sozialverband sind die Hormonkonzentrationen wieder auf Normalwerte abgesunken.“
Ach, J. S., & Stephany, M. (2010): Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Münster: LIT Verlag.

Wie wird das Sozialverhalten in der Pubertät erlernt?

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„Wie kommen die Unterschiede zu Stande? Wachsen die jungen Männchen in den Kolonien heran, so sind sie während der Pubertätsphase in aggressive Auseinandersetzungen mit älteren, dominanten Männchen verwickelt. In diesen Interaktionen erfahren sie die Rolle eines unterlegenen Individuums und erwerben hierbei die sozialen Fahigkeiten, die benötigt werden, um sich stress- und aggressionsarm mit Artgenossen zu arrangieren. Interessanterweise sind diese Fähigkeiten nicht, wie früher geglaubt wurde, instinktiv vorhanden. Wenn aber nun ein Männchen allein oder paarweise, das heißt, zusammen mit einem Weibchen aufwächst, so ist es während der Pubertät nicht in aggressive Interaktionen mit Artgenossen verwickelt. Als Konsequenz wird es essentielle soziale Fähigkeiten nicht lernen können. Die Folge sind eskaliertes aggressives Verhalten und starke hormonelle Stressreaktionen, wenn sie mit Artgenossen zusammentreffen, ohne gelernt zu haben, sich zu arrangieren.“
Ach, J. S., & Stephany, M. (2010): Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Münster: LIT Verlag.

Enge Boxen, Ställe und Käfige und die frühe Isolation der Babys fördern nicht ihr Sozial- und Spielverhalten sondern ihre Frustration, und diese führt unweigerlich zu Aggressionen. Auch wenn das Sozialverhalten später noch erlernt werden kann, bleiben schlecht aufgewachsene Kaninchen aggressiver als Kaninchen mit guten Aufzuchtbedingungen.

Sozialverhalten wird auch noch später erlernt, aber die Aggressionen bleiben lebenslang

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 „Das zeigten zum Beispiel Forscher um Áron Tulogdi vom Budapester Institut für experimentelle Medizin im Fachmagazin Developmental Psychobiology (online). Die Forscher versuchten, aggressive Ratten friedfertiger zu machen. Die eigentlich sozialen Tiere werden angriffslustig, wenn sie in früher Kindheit einzeln leben müssen. Lässt sich diese Fehlprägung durch Gruppenhaltung rückgängig machen? Um das zu klären, setzen die Wissenschaftler zunächst drei Wochen alte Rattenbabys in Einzelhaltung. Das hinterließ Spuren: Die isoliert aufgewachsenen Tiere waren später aggressiv, reagierten ängstlich auf ihre Käfiggenossen und schliefen getrennt von ihnen. Die Forscher sahen darin Gemeinsamkeiten mit Menschen, die in der Kindheit Schlimmes erleben.Innerhalb weniger Tage in der Gruppe aber änderte sich etwas im Verhalten der isoliert aufgezogenen Ratten. Schon bald legten sie sich doch zum Schlafen zu den anderen Tieren. Allerdings blieben sie aggressiver als normal sozialisierte Artgenossen. Was ihr Gruppenverhalten betraf, ließen die Ratten sich also resozialisieren, in Bezug auf ihre Aggression jedoch nicht, folgerten die Forscher. Die Angriffslust war damit Teil des Charakters der Tiere geworden. Wieder erkannten die Wissenschaftler erstaunliche Parallelen. Während sich soziale Phobien bei Menschen ebenfalls gut therapieren ließen, falle die Therapie aggressiven Verhaltens schwerer.“
Habich, i. (2014): Mensch, Kaninchen. Süddütsche Zeitung. [http://www.sueddeutsche.de/wissen/verhaltensbiologie-mensch-kaninchen-1.2107018, 29.09.2017]

Wie zeigt sich eine fehlende Sozialisierung bei betroffenen Kaninchen?

„Begegnungen zwischen zwei so aufgewachsen Tieren müssen in der Regel abgebrochen werden, weil es sonst zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden der Tiere kommen würde, bis hin zum Tod. Unsere Befunde weisen also auf die Pubertätsphase als den entscheidenden Lebensabschnitt hin, in dem die für das Zusammenleben wesentlichen sozialen Fähigkeiten erworben werden. Offensichtlich existiert eine kausale Beziehung zwischen den sozialen Erfahrungen, die die Tiere während der Pubertät machen, ihrem aggressiven Verhalten sowie dem Ausmaß hormoneller Stressreaktionen bei der Begegnung mit unbekannten Artgenossen.“
Ach, J. S., & Stephany, M. (2010): Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Münster: LIT Verlag.

Die Herkunft macht den Unterschied

Wer also Kaninchen in Zoohandlungen (die Tiere stammen aus Massenzuchten) oder von Züchtern ohne Gruppenaufzucht erwirbt, unterstützt Aufzuchtsbedingungen, die unweigerlich zu Aggressionen führen. Die Aufzucht in Ställen/Käfigen mit gelegentlichen Auslauf und nicht in einer größeren Gruppe ist genauso schädlich wie die viel zu frühe Abgabe, damit sie noch klein und süß sind. Ein solcher Kauf unterstützt damit eine Entwicklung, die Kaninchen kaum noch ermöglicht in Gruppen zu leben.

Achtung „Kastrationsquarantäne“

Wie oben in den Zitaten ersichtlich wird, kann schon die Einzelhaltung für wenige Wochen während der Sozialisierungsphase schlimme Spuren hinterlassen. Abhilfe schafft dagegen die Frühkastration (Kastration vor der Geschlechtsreife, also vor der 12. Lebenswoche), diese ermöglicht den Jungtieren, ohne Trennung im Gruppenverband mit Alt- und Jungtieren aufzuwachsen.

Ab wann darf ich Kaninchenbabys von der Mutter trennen?

Nehmen Sie die Babykaninchen nicht zu früh von der Mutter weg (niemals vor der 12. Lebenswoche, besser noch mit 14-16 Wochen) – und zwar aus folgenden Gründen:

  • Beobachtungen zeigen ganz klar, dass Kaninchen sehr viel länger als bis zur 6. oder 8. Lebenswoche bei ihrer Mutter Milch trinken. Weil dies meist nur nachts passiert, fällt es den meisten Züchtern gar nicht auf. Kaninchenbabys benötigen die Muttermilch um ein gesundes Immunsystem aufzubauen, werden sie abrupt abgestillt, wird dieser Vorgang meist gestört.
  • Die ersten vier Monate ist die prägendste Sozialisierungsphase für Kaninchen. In diesem Alter lernen sie im Gruppenverband mit den Alttieren und Geschwistern Sozialverhalten. Dafür ist eine harmonische, stabile Gruppe mit Alttieren unterschiedlichen Geschlechts nötig. Tiere, die in dieser Phase alleine oder nur mit einem anderen Kaninchen gehalten werden, haben später ein schlechteres Sozialverhalten und sind nicht so gut verträglich.
  • Die Babys untereinander spielen und kuscheln in den ersten Wochen sehr intensiv,der Kontakt mit einem Alttier kann die Babyspiele niemals ersetzen. Ähnlich wie wenn ein Menschenkind ohne Kontakt zu Gleichaltrigen aufwächst.
  • In dieser Phase wird die Darmflora und das Immunsystem gebildet. Die Umzüge zum neuen Halter (oder auch in eine Zoohandlung), eine Futterumstellung und Vergesellschaftungen bringen das Kaninchen mit neuen Keimen in Kontakt und belasten und stressen es unnötig stark, so dass manche Tiere in Folge lebenslang an einer Immunschwäche leiden.
  • Die Babys nehmen den Blinddarmkot der Mutter auf, um die Darmflora optimal aufzubauen. Dies ist nur möglich, wenn sie bis zur 16. Woche bei ihrer Mutter bleiben dürfen.
  • Wenn Kaninchen als Jungtiere aufgenommen werden, ist es ideal, wenn sie zu gleichgeschlechtlichen Alttieren ziehen. Dadurch lernen sie in der neuen Gruppe das Sozialverhalten, sich unterzuordnen und reagieren nachher weniger aggressiv in der Gruppe. Jungtiere sind auch für Anfänger nicht ideal, besser ist es, ein ausgewachsenes, harmonisches Pärchen aufzunehmen und Jungtiere erst später hinzu zu gesellen.

Sozialisierung gegenüber dem Menschen

Kaninchenbabys können sehr zahm werden, wenn sie von Anfang an den engen und liebevollen Kontakt zum Menschen gewöhnt sind. Dazu sollte man sich einmal täglich bei der Nestkontrolle etwas Zeit nehmen um die Kleinen vorsichtig zu streicheln, so dass sie sich an die Hand gewöhnen. Dann werden sie später sehr zahm. Wichtig ist, dass man mit ihnen nicht grob umgeht sondern einen regelmäßigen, liebevollen und intensiven Kontakt ermöglicht. Studien zeigen, dass sich bereits der Kontakt in der ersten Lebenswoche sehr stark darauf auswirkt, ob die Kaninchen später zahm sind. Dabei reicht sogar ein Kleidungsstück mit menschlichen Geruch, um sie an den Menschen zu gewöhnen, oder ein fünf-minütiger Kontakt in zeitlicher Nähe zum Säugen. Da Kaninchen meistens in den frühen Morgenstunden säugen, ist eine Nestkontrolle mit Kontakt zu den Jungtieren am Morgen ideal. Zudem besteht in der 1.-6. Lebenswoche eine sensible Phase, in der sie viele positive Erlebnisse mit dem Menschen haben sollten.
Hochwertige Züchter, Tierheime und Notstationen beachten diese Vorgehensweise und sozialisieren die Tiere auf den Menschen. So ist im späteren Leben ein entspannterer Umgang im Alltag mit den Hauskaninchen, aber auch z.B. bei medizinischen Maßnahmen möglich.

Quellen u.a.

Ach, J. S., & Stephany, M. (2010): Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Münster: LIT Verlag.
Csatadi K, Kustos K, Eiben Cs, Bilko A, Altbäcker V.(2005):  Even minimal human contact linked to nursing reduces fear responses toward humans in rabbits.  Appl Anim Behav Sci. 95:123–8. 11.
Csatadi K, Bilko A, Altbäcker V. (2007): Specificity of early handling: Are rabbit pups able to distinguish between people? Appl Anim Behav Sci. 107:322–7 12.
Ducs A, Bilko A, Altbäcker V. (2009): Physical contact while handling is not necessary to reduce fearfulness in the rabbit. Appl Anim Behav Sci. 121:51-4.
Habich, i. (2014): Mensch, Kaninchen. Süddütsche Zeitung. [http://www.sueddeutsche.de/wissen/verhaltensbiologie-mensch-kaninchen-1.2107018, 29.09.2017]
Rödel, H. G., & Monclús, R. (2011): Long-term consequences of early development on personality traits: a study in European rabbits. Behavioral Ecology, 22(5), 1123-1130.